conflict & communication online, Vol. 18, No. 2, 2019
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ISSN 1618-0747

 

 


Editorial

 

 

 

Seit der Friedensjournalismus vor mehr als zwanzig Jahren aus der Taufe gehoben wurde, hat er viel an Zustimmung aber auch an Kritik geerntet und eine Reihe von Missverständnissen und Kontroversen ausgelöst. Mit ein Grund dafür dürfte darin liegen, dass weder Kempf (1996) noch Galtung (1998) ihre Grundbegriffe (wie Frieden, Gewalt und Gewaltfreiheit, etc.) definieren, sondern ihr (bereits Jahrzehnte zuvor ausgearbeitetes) Verständnis dieser Begriffe einfach voraussetzen. Dieses Versäumnis nachzuholen und künftigen Missverständnissen vorzubeugen ist das Anliegen des Aufsatzes „Begriffe und Konzepte des Friedensjournalismus“, in dem Wilhelm Kempf herausarbeitet, dass Friedensjournalismus keineswegs ein einheitliches Konzept darstellt, sondern von verschiedenen Autoren durchaus unterschiedlich verstanden wird.
Ein anderes Defizit der friedensjournalistischen Grundlagenforschung besteht darin, das sie bisher zu sehr auf Kriegs- oder bestenfalls noch Nachkriegsberichterstattung fixiert war und geringer eskalierte Konflikte nur sporadisch ins Auge genommen hat. Die beiden Aufsätze über „Friedensjournalismus in geringfügig bis moderat eskalierten Konflikten“ von Michael Reimann und „Konfliktmanagement durch Medien“ von Sandro Macassi füllen somit eine Lücke und können als richtungweisend für künftige Studien angesehen werden.
Während Michael Reimann das Thema unter einer theoretisch-systematischen Perspektive angeht und die Voraussetzungen einer konstruktiven Konfliktberichterstattung (Meinungs- und Pressefreiheit, Ehrlichkeit und Offenheit sowie Vollständigkeit der Konfliktdarstellung) fokussiert, legt Sandro Macassi eine Fallstudie zur Berichterstattung über sozio-ökologische Konflikte in Peru vor und entwickelt auf Grundlage der Framing-Theorie Indikatoren für kooperative vs. parteiische Medienframes.
Ein Hindernis, das Friedensjournalismus überwinden muss, ist die Selbstzensur der Medien, die Sagi Elbaz & Daniel Bar-Tal in ihrem Aufsatz „Freiwilliges Schweigen“ sowohl theoretisch als auch empirisch untersuchen. Gestützt auf eine Analyse der Charakteristika der Selbstzensur, zeigen die Autoren auf, wie sehr die Darstellung des Zweiten Libanonkrieges in den israelischen Medien durch Selbstzensur belastet war, aus welcher Motivation heraus die Journalisten Selbstzensur praktizierten und welche Auswirkungen die Selbstzensur auf die israelische Gesellschaft hatte.
Seit der UN-Konferenz von Durban, auf der Israel der Apartheidpolitik bezichtigt wurde, und mehr noch seit sich die gewaltfreie Boykott, Divestment und Sanctions (BDS) Bewegung gegen die israelische Palästinapolitik formiert hat, machen die israelische Regierung und ihre Lobbyisten alles erdenkliche, um auch außerhalb Israels gesellschaftlichen Druck aufzubauen, die Äußerung von Israelkritik qua Selbstzensur zu unterbinden. David Ranans Plädoyer gegen den Missbrauch von Antisemitismusvorwürfen zwecks Verhinderung einer sachlichen Debatte über die israelische Palästinapolitik, ist in diesem Zusammenhang zu sehen und nur eine von unzähligen jüdischen Stimmen, die sich gegen den Rechtsruck der israelischen Politik und ihrer weltweiten Propagandakampagne wenden.
Exemplarisch dafür setzen wir Links auf ein Essay der Publizistin Michelle Goldberg in der New York Times, auf ein Essay des früheren israelischen Botschafters, Shimon Stein, und des in Tel Aviv lehrenden Historikers Moshe Zimmermann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sowie auf einen offenen Brief, in dem 17 deutsche Jüdinnen und Juden ihre Besorgnis über den Antrag „Gegen jeden Antisemitismus“ zum Ausdruck gebracht haben, der im April 2019 im Leipziger Stadtrat diskutiert werden sollte.
Zur Verteidigung der Meinungsfreiheit hat dies – zumindest hier in Deutschland – nichts geholfen. Der Leipziger Stadtrat hat den Beschlussantrag entgegen aller warnenden Stimmen verabschiedet und inzwischen hat auch der Deutsche Bundestag einen anti-BDS-Beschluss gefasst, der den Kampf gegen Antisemitismus zum Vorwand nimmt, um Kritik an der israelischen Palästinapolitik zu unterbinden. Umso wichtiger ist es, Stimmen wie die hier dokumentierten zur Kenntnis zu nehmen.
Man kann sich zu BDS so oder so verhalten. Man kann sich ihren Forderungen anschließen oder sie zurückweisen. Man kann ihre Aktionsformen begrüßen oder sie verwerfen. Man kann auch jedem einzelnen BDS-Aktivisten genau auf die Finger schauen, worum es ihm denn wirklich geht. Was im Widerstand gegen die südafrikanische Apartheid völlig unproblematisch war, ist aus historischen Gründen im Widerstand gegen die israelische Occupartheid ein heißes Eisen. Aber die Unterstützer von BDS gibt es ebenso wenig wie die Juden und die pauschale Verunglimpfung von BDS als antisemitisch ist nicht nur ein Angriff auf die Meinungsfreiheit. Die Dämonisierung von BDS delegitimiert jegliche Kritik an der israelischen Politik. Sie macht einen freien Meinungsstreit schier unmöglich und diskriminiert auch unzählige Juden, denen eine Friedenslösung für Israel/Palästina (anders als dem Bundestagsbeschluss) nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern ein dringendes Anliegen ist.
Abgerundet wird das vorliegende Heft von conflict & communication online durch eine empirische Studie, in der Wassilios Baros untersucht, wie sich junge erwachsene Griechen währen der Finanzkrise zu Globalisierung und Globalisierungskritik positioniert haben, sowie – als Vorgriff auf das nächste Heft der Zeitschrift, das dem Thema „Flucht, Migration, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus“ gewidmet ist – durch einen Link auf den Expertenbericht zur (Des-) Integrationspolitik der österreichischen Bundesregierung.

Berlin, im Oktober 2019

Wilhelm Kempf


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