conflict & communication online, Vol. 17, No. 2, 2018
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ISSN 1618-0747

 

 


Editorial

 

 

 

Der Themenschwerpunkt des vorliegenden Zeitschriftenheftes wurde von der jüngsten Tagung der Gesellschaft für Kulturpsychologie und der Fachgruppe Geschichte der Psychologie der DGPs angeregt, die im September 2017 vom Institut für Psychologie der Leibniz Universität Hannover veranstaltet wurde. Die Beiträge zur Tagung beleuchteten sowohl historische als auch aktuelle Aspekte von Emigration und Migration im kulturellen Kontext. Gemeinsam wurde diskutiert, was die wissenschaftliche Psychologie und die interdisziplinäre Forschung heute zu diesem Themenfeld beizutragen hat.
Auf der Tagung wurde unter anderem die Bedeutung von Religion im Kontext von Migration und Emigration unter historischer und kulturpsychologischer Perspektive diskutiert. Darüber hinaus wurden die Chancen und Herausforderungen des interkulturellen Zusammenlebens im ökonomischen Kontext thematisiert. Von Interesse war hier die mikroökonomische Nutzbarmachung kultureller Diversität im volkswirtschaftlichen Kontext, aber auch die Internationalisierung von Unternehmenstätigkeiten im Allgemeinen. Des Weiteren wurden Migrationserfahrungen syrischer Geflüchteter mit besonderem Fokus auf deren identitätsbezogenen Statuswechsel vom komplexen Subjekt zum „Flüchtling“ beleuchtet sowie die damit eng zusammenhängende kulturpsychologische Erforschung von Traumafolgen und angemessenen Therapiestrategien. Die Komponente interkultureller Kompetenz wurde am Beispiel bikulturell verwurzelter britischer Jugendlicher behandelt, welche sich als vielversprechender Zugang zum Themenkomplex ethnischer Identität herausstellte. Ein weiterer Beitrag widmete sich den Erfahrungen chinesischer Bildungsmigrantinnen und -migranten in Deutschland, deren quantitativ signifikante Repräsentanz Anlass zu einer eingehenderen kulturpsychologischen Beschäftigung gibt.
Die vier hier abgedruckten Beiträge geben einen Einblick in die Komplexität des Forschungsfeldes durch ihre unterschiedlichen Perspektiven. Zunächst stellt der emeritierte Professor für Religionswissenschaft und ausgewiesene Islamexperte Peter Antes in seinem Aufsatz Migration und Religion, der auf seinem Eröffnungsvortrag beruht, durch eine Skizze der historischen Entwicklung der großen Religionen in Europa klar, dass diese aus verschiedenen Gründen und auf verschiedenen Wegen kontinuierlich in den Kontinent getragen und verändert wurden. Die daraus entstandene kulturelle Diversität, so Antes, stellt eine Herausforderung auch für die Psychiatrie und Psychotherapie in Deutschland dar, weil westliche Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit oft nur schwer vereinbar sind mit dem kulturell geprägten Denken von Immigrantinnen und Immigranten. Durch die differenzierte Rekonstruktion des Zusammenhanges von Migrationsbewegungen und Religion bringt Antes Licht in das Dickicht der Mythen und Legenden, die sich – nicht zuletzt im aktuellen politischen Diskurs – um den Begriff der Migration, aber auch um die Begriffe Kultur und Religion ranken. Die Betrachtung entsprechender historiographischer Entwicklungen im Kontext von Migration und Religion trägt maßgeblich zur Versachlichung dieser komplexen Thematik bei.
Das Thema (nicht-)religiöser Positionen im Kontext von Migration greifen die Religionssoziologin und Preisträgerin des Ernst-Boesch-Nachwuchspreises (2017) Sarah Demmrich und der Religionswissenschaftler Michael Blume in ihrem Aufsatz Nichtreligiosität und „religiöse Unentschlossenheit“ bei türkeistämmigen Migrantinnen und Migranten in Deutschland: Eine erste Beschreibung auf. Auf der Basis einer repräsentativen Befragung werden die empirischen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ausprägungsgraden von Religiosität, Familienstrukturen, Generationszugehörigkeit und Akkulturationsstrategien analysiert. Die Differenzierung zwischen nichtreligiösen, religiös-unentschlossenen und hochreligiösen türkeistämmigen Migrantinnen und Migranten leistet einen wichtigen Beitrag für eine evidenzbasierte Auseinandersetzung mit Integrationsfragen, indem sie insbesondere die Migrantinnen und Migranten in den Blick nimmt, die sich selbst als nichtreligiös oder religiös unentschlossen bezeichnen.
An eine eindrucksvolle sozialphilosophische Reflexion von Migrationserfahrungen erinnert der Gesundheitspsychologe Olaf Morgenroth mit seinem Aufsatz Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt – Hannah Arendts Aufsatz „We refugees“ von 1943. Der Beitrag thematisiert und vergleicht die grundsätzlichen sozialphilosophischen Überlegungen Hannah Arendts zu den Reaktionen jüdischer Emigrantinnen und Emigranten mit den Beobachtungen des ebenfalls exilierten Psychologen Erich Stern. Im Fokus der Betrachtung stehen die unterschiedlichen Verhaltensweisen der betroffenen Exilanten mit der Schlussfolgerung, dass die von vielen bevorzugte Assimilationsstrategie, verbunden mit gleichzeitiger Verleugnung der eigenen jüdischen Identität, im Kontext der damaligen politischen Situation nicht tragfähig sein konnte. Von besonderem Interesse erscheint die ambivalente Situation Arendts; es spricht aus ihr sowohl die Philosophin als auch die persönlich Betroffene, die versucht, beide Ebenen für die Analyse von Migration und Identität miteinander auszuhandeln, und damit einen bemerkenswert sachlichen und reflektierten Blick auf den katastrophalen Status Quo ihrer Zeit liefert. Morgenroth erschließt diesen facettenreichen Aufsatz, auch durch einen Vergleich mit dem Psychologen Stern, als wichtigen Beitrag zur heutigen Diskussion um Emigration, Migration und Kultur.
Das Heft schließt mit einer psychologiegeschichtlichen Studie des Kulturpsychologen Ralph Sichler zu Hugo Münsterberg in Amerika und sein unbeachteter Beitrag zu einer vergleichenden Kulturpsychologie. Dabei wird der in der akademischen Psychologie für seine experimentell-angewandten Arbeiten geschätzte Hugo Münsterberg im Hinblick auf sein kulturpsychologisches Werk gewürdigt, das bislang kaum erschlossen ist. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Migrationserfahrungen im akademischen Milieu legte Münsterberg komparative kulturpsychologische Analysen zum Selbstverständnis des Amerikaners seiner Zeit vor: eine typisierende und idealisierende Charakterisierung von Grundwerten, die die amerikanische Lebensführung prägen. Neben der Würdigung von Münsterbergs Arbeit geht es Sichler aber auch darum, an diesem konkreten Beispiel Möglichkeiten und Grenzen kulturpsychologischer Deutungen und die Problematik einer idealtypisch ausgerichteten Kulturpsychologie aufzuzeigen.

Der Gastherausgeber und die Gastherausgeberin des Themenhefts bedanken sich herzlich bei der Autorin und den Autoren der Beiträge für die hervorragende Zusammenarbeit. Bei weiterem Interesse an der Tagung „Emigration, Migration und Kultur“, aus der die hier abgedruckten Beiträge stammen, wenden Sie sich bitte per eMail an: Billmann@psychologie.uni-hannover.de

Hannover, im Oktober 2018

Elfriede Billmann-Mahecha & Phillip Helmke

Der Gastherausgeber und die Gastherausgeberin: Phillip Helmke studierte Germanistik und Anglistik/Amerikanistik (B.A.) an der Leibniz Universität Hannover. In seiner Bachelorarbeit mit dem Titel Lineare Progression: von vereinzelter politischer Satire zum transtextuellen Phänomen, publiziert bei scius, beschäftigte er sich mit der Satiredebatte um das NeoMagazinRoyale und Extra3 im Jahr 2016. Er ist als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Psychologie tätig und studiert Neuere Deutsche Literaturwissenschaft (M.A.) an der Leibniz Universität sowie an der Philologischen Fakultät der Universitat de Barcelona.
eMail: phillip.helmke@stud.uni-hannover.de.

Elfriede Billmann-Mahecha ist Professorin für Psychologie an der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Entwicklungspsychologie, der Geschichte der Psychologie und der Kulturpsychologe.
eMail: Billmann@psychologie.uni-hannover.de.

 


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