conflict & communication online, Vol. 15, No. 2, 2016
www.cco.regener-online.de
ISSN 1618-0747

 

 


Editorial

 

 

 

Im Herbst 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, während sich die Zahl der fremdenfeindlichen Straftaten in Deutschland verdoppelte (vgl. Tab. 1) und die der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte geradezu explodierte (vgl. Tab. 2), als die deutsche Bundeskanzlerin vom Großteil Europas und ihrer eigenen Partei im Stich gelassen wurde, der Vorsitzende der Schwesterpartei eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen forderte und am Ende auch der österreichische Bundeskanzler einknickte und die Grenzen dicht machte, bekamen Pegida, AfD, CSU und FPÖ unerhoffte Rückendeckung durch Vertreter jüdischer Organisationen.

 

2011

2012

2013

2014

2015

Gesamt

1665

1838

2027

2207

4183

Gewaltdelikte

256

257

334

316

612

Verletzte

275

244

337

272

459

Propagandadelikte

342

407

391

391

783

Tabelle 1: Fremdenfeindliche Straftaten 2011-2015 [1].
.

 

2011

2012

2013

2014

2015

Gesamt

18

23

69

199

1005

Brandstiftungen

k.A.

k.A.

k.A.

6

92

Tabelle 2: Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte 2011-2015 [2].

Oskar Deutsch [3], der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien sprach davon, dass „die Hunderttausenden, die aus Syrien oder Afghanistan nach Europa kommen, (…) einem über Jahrzehnte zu besonderer Aggressivität herangewachsenen Antisemitismus ausgesetzt“ waren, und auch der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster [4], warnte vor einem, von den arabisch-stämmigen Flüchtlingen ausgehenden verstärkten Antisemitismus und sprach sich für eine Obergrenze bei der Einwanderung von Flüchtlingen aus [5].
Wenige Monate zuvor, nach den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris hatte Schuster noch recht besonnen reagiert und davon gesprochen, dass man als Jude in Europa nicht weniger sicher sei als etwa in den USA oder auch in Israel [6]. Und jetzt das: Generalverdacht gegen Araber bzw. Muslime und Ausgrenzung von Menschen, die vor dem islamistischen Terror in ihren Heimatländern fliehen; Ausgrenzung von Menschen, in denen man mit Pinchas Goldschmidt, dem Oberrabbiner von Moskau und Vorsitzenden der Europäischen Rabbinerkonferenz [7] doch auch „unsere Verbündeten gegen den radikalen Islamismus“ sehen könnte.
Die Gefahr, dass der wechselseitige Hass zwischen Juden und Arabern, die im Nahen Osten seit gut einem Jahrhundert um ein kleines Stück Land kämpfen, auch in Deutschland und/oder Österreich um sich greifen könnte, besteht tatsächlich. „Jahrzehnte des israelisch-arabischen Konflikts haben in der islamischen Welt nicht nur das Bild von Israel, sondern auch vom Judentum geprägt“ [8] und umgekehrt in Israel und der jüdischen Diaspora das Bild von Arabern und Muslimen. Auf beiden Seiten gibt es schon jetzt Leute, die einen ideologischen Stellvertreter-Nahostkrieg in Deutschland und/oder Österreich kämpfen. Einen Propagandakrieg, der auf pro-israelischer Seite mit dem Mittel geführt wird, in der öffentlichen Wahrnehmung die Grenzen zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an der israelischen Palästinapolitik zu verwischen und die jüdische Gemeinschaft in Angst und Schrecken zu versetzen, immer und überall nur von Antisemiten umgeben zu sein. Diese Angstmache trägt jetzt Früchte.
Jedoch „die Juden“ gibt es ebenso wenig wie „die Araber“, „den Islam“ oder „die Muslime“. Und – wie der israelische Schriftsteller David Grossmann [9] schreibt – verläuft die Trennlinie nicht „zwischen Juden und Arabern (…), sondern zwischen all jenen, die in Frieden leben wollen, und denjenigen, die ideologisch und emotional auf Gewalt setzen“. Und, wenn dies in Israel/Palästina gilt, dann gilt es hier bei uns in Deutschland und Österreich nicht weniger. Und dann steht es, wie der deutsch-jüdische Historiker Michael Brenner [8] in der Süddeutschen Zeitung betont hat, auch in unserer Macht, ein neues Modell jüdisch-muslimischer Koexistenz aufzubauen.
„Dass die Menschen in manchen muslimisch geprägten Ländern mit antisemitischer Propaganda indoktriniert werden, bedeutet noch lange nicht, dass sie alles für bare Münze nehmen, was man ihnen vorsetzt“ (Brenner) [8], und bei aller Sorge, „dass israelfeindliche Bilder nach Deutschland transportiert werden könnten und hier zu einem Antisemitismus führen, der das Wertegefüge in eine Richtung brächte, die wir alle nicht wollen" (Schuster) [10], bedeutet die Ausgrenzung von Migranten aus arabischen Staaten nicht nur die Aufgabe zentraler jüdischer und christlicher Werte, sondern torpediert zugleich die Integration der Flüchtlinge.
Die Befürchtung, dass auch bei uns „französische Verhältnisse“ eintreten könnten, war angesichts Terroranschläge von Paris im Januar und November 2015 verständlich. Doch müssen islamistisch bedingte Vorfälle im Rahmen der Traditionen [11] und des gesellschaftlichen Klimas des jeweiligen Landes gesehen werden, in dem sie sich ereignet haben. Wo Migranten auf Ablehnung stoßen, ist es nicht überraschend, wenn sie sich marginalisiert fühlen und (manche von ihnen) Hassgefühle gegen die Aufnahmegesellschaft entwickeln oder eine Verbundenheit mit transnationalen islamistischen Organisationen entwickeln, die dem globalen Dschihad zuneigen.
Eine Vorbeugung dagegen kann nur in der Integration der Migranten bestehen. Integration ist jedoch nichts, das einseitig von „den Flüchtlingen“ geleistet oder auch nur gefordert werden kann. Integration ist ein beidseitiger Prozess, zu dem die Aufnahmegesellschaft ihren Teil beitragen muss, indem sie die Einwanderer in ihrer Mitte aufnimmt und sie nicht nur duldet oder gar ausgrenzt.
„Sie erfolgreich zu integrieren, heißt nicht nur, ihnen ein Dach über dem Kopf zu bieten, sie finanziell zu unterstützen und ihnen Aussicht auf Arbeit zu geben, sondern auch, die Werte unserer Gesellschaft zu vermitteln“ (Brenner) [8]. Das kann aber nur dann gelingen, wenn diese Werte von uns selbst glaubwürdig vertreten und gelebt werden. Um sie zu integrieren, muss man nicht nur – wie von Schuster [12] gefordert – „den Menschen, die zu uns kommen“ klar machen „dass antisemitisches Verhalten in Deutschland nicht toleriert wird“, sondern man darf es auch nicht unwidersprochen hinnehmen, wenn z.B. die Jüdische Rundschau [13] die Verteidiger des Asylrechts verächtlich macht.
Wenn man das Wertgefüge unserer Gesellschaft zwar als Lippenbekenntnis vor sich herträgt, zugleich aber die Flüchtlinge unter Generalverdacht stellt und ihnen nur allzu deutlich zu verstehen gibt, dass sie hier unerwünscht sind, zerstört man ihre Integrationsbereitschaft: Wer will sich schon in eine Gesellschaft integrieren, die ihm feindlich gesinnt ist? Und, wenn Schuster eine Begrenzung der Einwanderung von arabisch-stämmigen Flüchtlingen verlangt, gießt er damit auch noch Wasser auf die Mühlen jener, welche „die Juden“ bereits zum Feind erkoren haben, und gibt ihnen das „Argument“ an die Hand, dass „die Juden“ nun auch den Arabern und Muslimen, die in Europa Zuflucht suchen, das Recht auf Asyl verweigern.
Angstmache vor muslimischen Migranten ist in Deutschland nichts Neues. Der Versuch, den Berliner Stadtbezirk Neukölln zur No-Go-Area für Juden auszurufen [14] ist nur ein Beispiel dafür. Doch Angst ist ein schlechter Ratgeber, und wenn sich der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland mit den Forderungen rechtspopulistischer Parteien und der islamfeindlichen Pegida-Bewegung gemein macht, darf er sich nicht wundern, wenn sich manche Juden nicht von ihm vertreten fühlen [15]. Denn zum Glück sind es ja nicht „die Juden“, sondern nur eine kleine, dafür aber umso lautstärkere Minderheit, die die Angst vor „den Muslimen“ schüren. Es gibt auch die vielen, die sich um ein friedliches Zusammenleben bemühen, Verständnis für das Schicksal der Menschen haben, die zu uns kommen, und bereit sind zu helfen: Rabbiner, die in ihren Predigten die biblische Tradition der Flüchtlingshilfe in den Mittelpunkt stellten, Jüdische Hilfsorganisationen wie die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, die sich bei ihren jüdischen Gemeinden meldeten, um den oftmals russisch sprechenden syrischen Flüchtlingen beizustehen, u.s.w. Auf der Graswurzelebene bildeten sich spontan Freiwilligengruppen und in den USA forderte die Hebrew Immigrant Aid Society den amerikanischen Präsidenten auf, mehr syrische Flüchtlinge ins Land zu lassen [8].
Auf diese Leute aufmerksam zu machen, ist der Grund, warum wir in dieser Ausgabe von conflict & communication online den Willkommensflyer der jüdisch-österreichischen Freiwilligengruppe Shalom Alaikum Vienna dokumentieren und einen Link auf den, in der Wiener Zeitung erschienenen, Aufsatz „Freundschaft gegen Hass“ setzen, in dem Alexia Weiss das von Wiens Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister und dem Imam Ramazan Demir gemeinsam verfasste Buch „Reise nach Jerusalem“ bespricht.
Außerdem setzen wir einen Link auf den Katalog von Fragen und Antworten zu MuslimInnen und Islam, den die österreichische Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch ins Netz gestellt hat, und dokumentieren die „Kasseler Schulderklärung“, mit welcher der Arbeitskreis „Friedensauftrag und Militär“ des Internationalen Versöhnungsbundes/Deutscher Zweig auf den offenen Brief von über 120 muslimischen Gelehrten „an die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten ‚islamischen Staates’“ reagiert hat.
Diese Schulderklärung mag manchem vielleicht etwas naiv erscheinen, aber es führt kein Weg daran vorbei: Konflikte zwischen der jüdischen, der muslimischen und der christlichen Welt können nur bewältigt werden, wenn die Zivilgesellschaft gegen jede Art von Unrecht auftritt, das in ihrem Namen und/oder im Namen ihrer religiös-kulturellen Wurzeln begangen wird/wurde. Das gilt auch noch nach der Welle von Terroranschlägen im Sommer dieses Jahres, und es besteht ein dringendes Bedürfnis, die Gewaltspirale nicht noch weiter anzuheizen und den populistischen Politikern die Gefolgschaft zu verweigern, die von rechts (Horst Seehofer) bis links außen (Sahra Wagenknecht) auf Stimmenfang gehen, indem sie sich dem Appell der Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“ entgegenstellten.
In einer Atmosphäre der Angst und Unsicherheit wird es immer der Extremismus sein, der als erster eine verführerische Erklärung jener Phänomene anbietet, die andere sprachlos zurücklassen. Diese Sprachlosigkeit gilt es zu überwinden. Von politischen Eliten, die hinter Meinungsumfragen herhecheln, ist nichts zu erhoffen, aber der Möglichkeiten für ziviles Engagement, die Neuerfindung von Politik, die Regenerierung von Demokratie und die Schaffung einer offenen Gesellschaft, die jeder Art on Hass und Vorurteilen gegen religiöse und/oder ethnische Gruppen eine klare Absage erteilt und die Vielfalt kultureller Einflüsse als Bereicherung empfindet, gibt es unendlich viele. Wir müssen sie nur ergreifen [16].

Berlin, im Oktober 2016

Wilhelm Kempf

Anmerkungen:
[1] Die in Tabelle 1 genannten Zahlen beruhen auf den vierteljährlichen Bundestagsanfragen der Partei Die Linke (vgl. http://www.petrapau.de/18_bundestag/index_anfragen_rechts.htm; Download 8.6.16). Die vom Bundestag genannten Zahlen sind erfahrungsgemäß konservativ. Die später vom BMI veröffentlichten Zahlen liegen erfahrungsgemäß um ca. die Hälfte höher.
[2] Die in Tabelle 2 genannten Zahlen beruhen für 2011-2014 auf der in Wikipedia veröffentlichten Liste (https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Angriffen_auf_Fl%C3%BCchtlinge_und_Fl%C3%BCchtlingsunterk%C3%BCnfte_in_Deutschland; Download 13.6.16) und für 2014-1015 auf einem Bericht des Spiegel vom 28.1.16 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlingsheime-bundeskriminalamt-zaehlt-mehr-als-1000-attacken-a-1074448.html; Download 13.6.16). Laut einer Dokumentation der taz vom 29.9.15 (http://www.taz.de/!5235937/; Download 13.6.16) liegt die Anzahl der 2015 verübten Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte mit mindestens 122 sogar noch deutlich höher als die vom Bundeskriminalamt angegebenen Zahlen.
[3] Vgl.  http://juedischerundschau.de/zuwanderung-und-antisemitismus-135910209/ (Download 5.6.16).
[4] Vgl.  http://www.epochtimes.de/politik/deutschland/zentralrat-der-juden-fuerchtet-antisemitismus-durch-fluechtlinge-a1274897.html (Download 5.6.16).
[5] Vgl.  http://www.shortnews.de/id/1179301/zentralrat-der-juden-fordert-obergrenze-fuer-fluechtlinge# (Download 6.6.16).
[6] Vgl. http://www.taz.de/Juedisches-Leben-in-Europa/!154852/ (Download 28.2.2015).
[7] Vgl. http://kurier.at/politik/ausland/rabbi-pinchas-goldschmidt-muslime-sind-unsere-verbuendeten/202.140.088 (Download 5.6.16).
[8] Vgl. http://www.sueddeutsche.de/kultur/debatte-bringen-die-fluechtlinge-mehr-antisemitismus-nach-deutschland-1.2655933 (Download 6.6.16).
[9] Vgl.  http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/diverses/Erinnern-wir-uns-an-die-Zukunft/story/10216028 (Download 24.11.2014)
[10] Vgl. http://www.epochtimes.de/politik/deutschland/zentralrat-der-juden-fuerchtet-antisemitismus-durch-fluechtlinge-a1274897.html (Download 5.6.16).
[11] Vgl. Kepel, G. (2009). Die Spirale des Terrors. Der Weg des Islamismus vom 11. September bis in unsere Vorstädte. München: Piper.
[12] Vgl.  https://newsburger.de/antisemitismus-zentralrat-der-juden-beklagt-ein-abdriften-nach-rechts-92994.html (Download 5.6.16)
[13] Vgl.  http://juedischerundschau.de/zuwanderung-und-antisemitismus-135910209/ (Download 5.6.16).
[14] Vgl. http://www.morgenpost.de/bezirke/neukoelln/article121251303/Neukoelln-Besuch-kann-Rabbiner-Alter-die-Angst-nicht-nehmen.html (Download 28.2.14).
[15] Wenn man dies allerdings so grobschlächtig formuliert, wie der Rabbinerstudent Armin Langer, Gründer der Initiative Salaam-Schalom, die sich für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Muslimen in Neukölln einsetzt, dann ist dies kaum hilfreich. Vgl. http://www.taz.de/Kommentar-Fluechtlingsaufnahme/!5250325/ (Download 5.6.16).
[16] Cf. Glucksmann, R. (2015). Génération Gueule de Bois. Paris: Allary Éditions.

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