conflict & communication online, Vol. 15, No. 1, 2016
www.cco.regener-online.de
ISSN 1618-0747

 

 

 

Wilhelm Kempf (2015). Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee. Eine Spurensuche. Berlin: regener
ISBN 978-3-936014-33-4, 280 S., 39.90 €.

Die Frage, ob bzw. ab wann Israelkritik antisemitisch ist, hat im deutschsprachigen Raum an Aktualität nichts eingebüßt. Dies zeigte sich erst jüngst in Berlin und Wien. Anfang März fanden in beiden Städten Veranstaltungen im Rahmen der internationalen „Israeli Apartheid Week“ statt, in beiden Städten regte sich Protest dagegen. Die Veranstaltungen wurden als antisemitisch bezeichnet und es wurde beider Orts versucht, sie mit diesem Vorwurf zu verhindern. Während die Versuche in Berlin erfolglos blieben [1], führten sie in Wien dazu, dass dem Veranstalter BDS Austria [2], die zugesagten Räumlichkeiten entzogen wurden [3]. Während die international agierende BDS-Kampagne sich als Menschenrechtskampagne versteht, wird sie von ihren Gegnern häufig des Antisemitismus bezichtigt. In genau jenem Spannungsfeld bewegt sich auch die Studie von Wilhelm Kempf. In einer Zeit, in der sowohl die Menschenrechtsverletzungen in Palästina und Israel, als auch der Rassismus in Europa zunehmen, trifft das Buch „Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee. Eine Spurensuche“ somit einen aktuellen Nerv.
Über den Autor Wilhelm Kempf an dieser Stelle viele Worte zu verlieren, erscheint nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass er seit der Gründung der Zeitschrift conflict & communication online 2002 als deren Herausgeber fungiert und hier auch regelmäßig publiziert, müßig. Der emeritierte Professor für psychologische Methodenlehre und Friedensforschung an der Universität Konstanz forscht und publiziert seit vielen Jahren zur Friedens- und Konfliktforschung und legte unter anderem gemeinsam mit Johann Galtung den theoretischen Grundstein für das Konzept des Friedensjournalismus. Die rezensierte Studie entstand zwischen 2009 und 2012 im Zuge eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekts zum Thema „Israelkritik, Umgang mit der deutschen Geschichte und Ausdifferenzierung des modernen Antisemitismus“, das von der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz durchgeführt wurde. Für das rezensierte Buch war mit Rolf Verleger ein kenntnisreicher Berater an der Untersuchung beteiligt. Verleger, ebenfalls Psychologe und Professor für Neurophysiologie an der Universität Lübeck, war Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland und zählt spätestens seit 2006 zu einer der bekanntesten israelkritischen jüdischen Stimmen in der Bundesrepublik. Wie Verleger im Vorwort der Studie richtig bemerkt, war eine solche Untersuchung, wie sie von Kempf und seinem Forschungsteam vorgenommen wurde, „dringend nötig“, nämlich eine, die versucht, „herauszufinden, in welches Weltbild kritische Einstellungen gegen Israel eingebettet sind.“ (S. 10)
Anstatt nun aber, wie andere Untersuchungen es tun, lediglich die Einbettung von Israelkritik in ein antisemitisches Weltbild zu erfragen, untersucht Kempfs Studie gleichzeitig eine Alternative, namentlich menschenrechtlich motivierte Kritik an der israelischen Politik. Denn wie Kempf richtig erklärt: „[W]enn man zu belastbaren Ergebnissen über die Relation zwischen Israelkritik und Antisemitismus kommen will, darf man Israelkritik nicht schon von vornherein als antisemitisch brandmarken, sondern: […] Man muss neben antisemitischen, israelfeindlichen und palästinenserfeindlichen Ressentiments auch Orientierungen wie Pazifismus, Menschenrechtsengagement und/oder moralische Ablösung als mögliche Gründe dafür betrachten, wie Menschen sich zu dem Konflikt positionieren“ (S. 26). Genau dies wurde mittels einer repräsentativen quantitativen Befragung von knapp 1.000 Deutschen im Sommer 2010 erhoben, deren Antworten statistisch analysiert und zu Mustern gruppiert wurden. Insgesamt identifiziert die Studie vier „Spielarten von Unterstützung vs. Kritik“ (S. 79) in der deutschen Bevölkerung:

            1. Unterstützer der israelischen Politik (insgesamt 26%): Während ein geringer Teil dieser Gruppe (6% aller Befragten) den „gemäßigten Unterstützern“ zuzurechnen ist, interpretiert der Großteil der „radikalen Unterstützer“ (20% aller Befragten) den Konflikt in einem „pro-israelischen War Frame“ [4], der die Anwendung von Gewalt nicht ablehnt, und sich aus der Ablehnung antisemitischer Einstellungen bei gleichzeitiger Tendenz zu Ressentiments gegen Palästinenser begründet (S. 80).
            2. Latent antisemitische Vermeidung von Israelkritik (insgesamt 11%): Interessant an dieser Gruppe ist die Feststellung, dass es sich dabei um diejenigen Deutschen handelt, die zwar keine spezifische Position zu dem Konflikt beziehen, aber dennoch eher mit der israelischen Perspektive sympathisieren und gleichzeitig zu verschiedenen antizionistischen, israelfeindlichen und durchaus auch antisemitischen Vorstellungen tendieren (S. 81).
            3. Antisemitische Israelkritik (insgesamt 26%): Vertreter dieser Gruppe zeichnen sich durch ein geringes Wissen über den Konflikt und eine starke bis sehr starke Befürwortung sowohl antisemitischer, antizionistischer und israelfeindlicher, aber auch palästinenserfeindlicher Vorurteile aus, das heißt kurz gesagt sind sie für Rassismen aller Art zugänglicher (S. 81f.).
            4. Menschenrechtsorientierte Israelkritik (insgesamt 36%): Hier findet sich wohl eine der bemerkenswertesten Erkenntnisse der Studie: Die in dieser Gruppe zusammengefassten Menschen zeigten sich nicht nur mit am besten über den Konflikt informiert, sondern vor allem fast komplett frei von antisemitischen, aber auch anderen, namentlich palästinenser- und islamfeindlichen Vorurteilen (S. 81f.).

Im Allgemeinen dürfte so manchen auch überraschen, dass gewisse Spielarten von Antisemitismus sowie eine Tendenz zu generalisierender Israelkritik unter Westdeutschen verbreiteter sind als unter Ostdeutschen (S. 144f.).
Kurz zusammengefasst führt das gut durchdachte Forschungsdesign der Studie zu differenzierten Ergebnissen. Einem solchem Erkenntnisgewinn besonders zuträglich ist, dass der Fragebogen den Faktor „Wissen über den Konflikt“ beinhaltete.  Allzu oft wird in Deutschland und Österreich eine Diskussion über die Hintergründe und Intentionen von Israelkritik ohne eine angemessene Beurteilung der historischen und aktuellen Fakten des Konflikts bzw. der Kenntnisse dieser unter den Kritikern geführt. Leider beinhaltet der Wissenstest keine einzige Frage oder Aussage zum Thema Zionismus. Dies wäre jedoch notwendig gewesen, um antizionistische Einstellungen besser einordnen zu können. Zwar gibt die Studie empirische Evidenz dafür, dass „Antizionismus nicht mit Antisemitismus gleichgesetzt werden kann“ (S. 156), doch wird mit dem ohnehin schon sehr aufgeladenen Begriff und den ihm anhängenden Assoziationen insofern nicht vollkommen akkurat umgegangen, als nicht überprüft wird, was der oder die Befragte unter Zionismus versteht. Dass dies in Kempfs Studie nicht geschieht, ist umso bedauerlicher, als die Untersuchung es ansonsten durchgehend schafft, mittels umfassender Kontextualisierungen vereinfachende Rückschlüsse zu vermeiden. Als positiv ist abschließend hervorzuheben, dass antisemitische Einstellungen mit für den Israel-Palästina-Konflikt besonders relevanten palästinenser- und islamfeindlichen Einstellungen abgeglichen werden. Damit wird Antisemitismus in Kempfs Studie nicht isoliert, sondern in den breiteren Kontext rassistischer Mechanismen eingebettet.
Es ist ein großer Verdienst des Autors, dass die Studie trotz ihres dichten und komplexen statistischen Gehalts gut lesbar ist. Dies ist sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass das Buch zweigeteilt und die Analysedetails sämtlicher umfassender Tabellen, die sich dem in quantitativen Methoden weniger bewanderten Leser schwerer erschließen, im zweiten Teil des Buches zu finden sind. Kempfs Untersuchung leistet einen gut recherchierten und methodisch genauen Beitrag zum Themenkomplex Antisemitismus und Israelkritik. Darüber hinaus führt der innovative Zugang zu wichtigen, nuancierten Erkenntnissen. Diese wären nun durch qualitative Forschungen zu ergänzen bzw. zu erweitern und zu vertiefen. So hat Anna-Esther Younes beispielsweise kürzlich in ihrer Dissertation anhand einer umfangreichen, vordergründig ethnographischen Analyse untersucht, welche Funktion der deutsche Antisemitismusdiskurs im Kontext von Kolonialismus, zunehmendem anti-muslimischem Rassismus und sich verschärfenden europäischen und nationalstaatlichen Sicherheitsdiskursen einnimmt. Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass der israelisch-palästinensische Konflikt sowohl individuell als auch kollektiv als identitätsstiftende Projektionsfläche für weiße Deutsche fungiert und zwar im doppelten Sinne: einerseits um durch die Unterstützung Israels die Überwindung des eigenen Antisemitismus zu deklarieren; und andererseits um gleichzeitig weiterhin den altbekannten „jüdischen Anderen“ über einen Umweg über den „muslimischen Anderen“ zu rassifizieren [5]. Dies könnte beispielsweise als Erklärung dafür herangezogen werden, warum sich in Kempfs Studie antisemitische und auch israelfeindliche Vorurteile sogar in der Gruppe der Israelunterstützer finden (S. 80). Diese Tatsache kann das rezensierte Buch zwar feststellen, nicht aber erklären. Es bleibt jedenfalls zu hoffen, dass die Ergebnisse der Studie von Kempf und Verleger jedoch nicht nur von der wissenschaftlichen Fachwelt, sondern auch von politischen Entscheidungsträgern, von Journalisten und nicht zuletzt auch von der in (vor allem antirassistischer) Bildungsarbeit Tätigenden rezipiert werden.

Ruth Orli Moshkovitz

Anmerkungen
[1] Vgl. http://www.berliner-zeitung.de/kultur/aktivisten-wollten-filmvorfuehrung-im-moviemento-kino-verhindern-23677950 [zuletzt abgerufen am 19.03.2016]. Dass es keinen Dialog mehr gab, wie am Schluss des Artikels behauptet, ist nur bedingt richtig. Vonseiten des Kinos wurde angesichts der versuchten Verhinderung der Filmvorführung eine Gesprächsrunde zum Thema „Antisemitismusdebatte in Deutschland“ organisiert, an der auch der Filmemacher teilnahm. Vgl. http://www.moviemento.de/presse/pm09-03-deutsch.pdf [zuletzt abgerufen am 19.03.2016].
[2] Die lokale Gruppe der internationalen Bewegung für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel.
[3] Vgl. http://wien.orf.at/news/stories/2761657/ [zuletzt abgerufen am 19.03.2016]. Die Filmvorführung wurde gänzlich abgesagt, der Vortrag von Ofer Neiman jedoch fand am geplanten Tag an einem anderen Ort statt.
[4] Um das Konflikverständnis der Befragten zu ermitteln, wurde zwischen „War Frame“ und „Peace Frame“ unterschieden. Beide finden sich sowohl bei einer pro-israelischen als auch einer pro-palästinensischen Haltung. Der sogenannte „War Frame“ impliziert eine kompromisslose und einseitige Parteinnahme für die eine oder andere Seite. Innerhalb des „Peace Frame“ hingegen wird trotz möglicher Parteinahme für die israelische oder palästinensische Seite auch die Perspektive des Gegners berücksichtigt. Im Mittelpunkt steht der Ausgleich. Nicht zuletzt deshalb ist ein Verständnis des Konflikts in einem Peace Frame auch „neutral“ möglich, d.h. ohne eindeutige Parteinahme für eine der Konfliktparteien, während dies in einem War Frame nicht möglich ist (S. 61f.).
[5] Vgl. Younes, Anna-Esther, Race, Colonialism and the Figure of the Jew In a New Germany, Dissertation, Graduate Institute of International and Development Studies, Genf 2015.

 

     
 

Über die Autorin: Ruth Orli Moshkovitz studierte in Berlin, Budapest und Wien Geschichte mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechtergeschichte. Mit der Vergangenheit und Gegenwart des Nahostkonflikts, (NS-)Erinnerungspolitik sowie verschiedenen Erscheinungsformen von Rassismus im deutschsprachigen Raum beschäftigt sie sich sowohl wissenschaftlich als auch aktivistisch seit einigen Jahren.

eMail: ruthorli@moshkovitz.at

zurück zum Inhaltsverzeichnis