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Irena Regener (Berlin)
Spracheinstellungen in den 90er Jahren in Berlin: Aspekte deutsch-deutscher
Identitätssicherung aus soziolinguistischer Perspektive
Identitätsfindungs-
bzw. -sicherungsprozesse im Deutschland der 90er Jahre sind von ostwestunterschiedener
Spezifik. Da eine gemeinsame Sprache zu den wesentlich identitätsstiftenden
Werten sozialer Gruppen gehört, wird am Beispiel der berliner Sprachgemeinschaft
untersucht, welche Funktion Spracheinstellungen und Sprachverhalten in
diesen Prozessen zukommt: (1) Ausgehend von empirisch nachweisbaren Unterschieden
zwischen Ost- und Westberlinern in ihrem Sprachverhalten wird der Frage
nachgegangen, (2) wie sich diese Unterschiede in Spracheinstellungen sowohl
dem Berlinischen generell als auch dem Sprachgebrauch in der jeweils anderen'
Stadthälfte gegenüber kontinuieren, und (3) welche Entwicklungen
es in der Nachanschlusszeit gibt - wie Sprachverhalten und Spracheinstellungen
letztlich zu Annäherung vs. Abgrenzung zwischen Ost und West beitragen.
Die Basis für die Beantwortung dieser Fragen bilden die Ergebnisse
einer Längsschnittstudie (standardisierte Fragebogenerhebung; Auswertung
mittels quantitativer und qualitativer statistischer Methoden), die das
Bild einer nach wie vor sprachlich geteilten Stadt zeichnen. Sich vollziehende
Veränderungen im Sprachverhalten und in den Spracheinstellungen,
aber auch und gerade Veränderungen, die nicht stattfinden, sind partiell
ost- bzw. westspezifisch festzumachen, und zwar so, dass sie die ererbten
Spezifika' der ost- bzw. der westberliner Sprachgemeinschaft einerseits
tradieren und andererseits den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen
entsprechend weiterentwickeln. So existiert nach wie vor ein deutliches
und auch deutlich wertendes Differenzbewusstsein hinsichtlich des Gebrauchs
und der Bewertung der Stadtvarietät, das mehrheitlich auch auf die
Sprecher in der jeweils anderen Stadthälfte distinktiv projiziert
wird. Dabei erscheint die westberliner Sprachgemeinschaft zwar gefestigter
in ihren Haltungen, Einstellungen, Werten und Urteilen als die ostberliner
und deshalb änderungsresistenter oder auch konservativer, aber es
gibt eine Bewegung hin zu positiverer Interessiertheit am Ostpendant.
Die ostberliner Sprachgemeinschaft ist unmittelbar nach dem Anschluß
in ihrem Selbstverständnis verunsichert und irritiert worden. Inzwischen
jedoch gewinnt sie zunehmend einen Teil ihres Selbstbewusstseins und damit
auch ihrer sprachlichen Autonomie zurück, weil sie ihre eigene Sprache
- zunehmend wieder - als einen der zentral identitätsstiftenden Werte
wahrnimmt bzw. entdeckt und auch dringend braucht.
Diese Befunde und Entwicklungen in Ost wie in West reflektieren die je
spezifische Normalität des gegenseitigen Kennenlern- und Annäherungsprozesses
von den sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen und -erwartungen aus.
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Zur Autorin: Irena Regener, Dr. phil., Germanistin. Schwerpunkte:
Soziolinguistik, Geschichte der sprachwissenschaftlichen Germanistik. Veröffentlichungen
u.a.: "Krieg, Nationalismus, Rassismus und die Medien" (gemeinsam
mit Wilhelm Kempf, Münster: Lit, 1998); Selbstidentifikation via Varietätengebrauch.
Sprachverhalten und Spracheinstellungen in der berliner Sprachgemeinschaft
der 90er Jahre. Linguistik online 7, 3/00.
Adresse: Lehderstraße 61, D-13086 Berlin (www.regener-online.de).
e-mail: IrenaRegener@aol.com |
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