conflict & communication online, Vol. 1, No. 1, 2002
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ISSN 1618-0747

 

 

 

Irena Regener (Berlin)
Spracheinstellungen in den 90er Jahren in Berlin: Aspekte deutsch-deutscher Identitätssicherung aus soziolinguistischer Perspektive

Identitätsfindungs- bzw. -sicherungsprozesse im Deutschland der 90er Jahre sind von ostwestunterschiedener Spezifik. Da eine gemeinsame Sprache zu den wesentlich identitätsstiftenden Werten sozialer Gruppen gehört, wird am Beispiel der berliner Sprachgemeinschaft untersucht, welche Funktion Spracheinstellungen und Sprachverhalten in diesen Prozessen zukommt: (1) Ausgehend von empirisch nachweisbaren Unterschieden zwischen Ost- und Westberlinern in ihrem Sprachverhalten wird der Frage nachgegangen, (2) wie sich diese Unterschiede in Spracheinstellungen sowohl dem Berlinischen generell als auch dem Sprachgebrauch in der jeweils ‚anderen' Stadthälfte gegenüber kontinuieren, und (3) welche Entwicklungen es in der Nachanschlusszeit gibt - wie Sprachverhalten und Spracheinstellungen letztlich zu Annäherung vs. Abgrenzung zwischen Ost und West beitragen.
Die Basis für die Beantwortung dieser Fragen bilden die Ergebnisse einer Längsschnittstudie (standardisierte Fragebogenerhebung; Auswertung mittels quantitativer und qualitativer statistischer Methoden), die das Bild einer nach wie vor sprachlich geteilten Stadt zeichnen. Sich vollziehende Veränderungen im Sprachverhalten und in den Spracheinstellungen, aber auch und gerade Veränderungen, die nicht stattfinden, sind partiell ost- bzw. westspezifisch festzumachen, und zwar so, dass sie die ‚ererbten Spezifika' der ost- bzw. der westberliner Sprachgemeinschaft einerseits tradieren und andererseits den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen entsprechend weiterentwickeln. So existiert nach wie vor ein deutliches und auch deutlich wertendes Differenzbewusstsein hinsichtlich des Gebrauchs und der Bewertung der Stadtvarietät, das mehrheitlich auch auf die Sprecher in der jeweils anderen Stadthälfte distinktiv projiziert wird. Dabei erscheint die westberliner Sprachgemeinschaft zwar gefestigter in ihren Haltungen, Einstellungen, Werten und Urteilen als die ostberliner und deshalb änderungsresistenter oder auch konservativer, aber es gibt eine Bewegung hin zu positiverer Interessiertheit am Ostpendant. Die ostberliner Sprachgemeinschaft ist unmittelbar nach dem Anschluß in ihrem Selbstverständnis verunsichert und irritiert worden. Inzwischen jedoch gewinnt sie zunehmend einen Teil ihres Selbstbewusstseins und damit auch ihrer sprachlichen Autonomie zurück, weil sie ihre eigene Sprache - zunehmend wieder - als einen der zentral identitätsstiftenden Werte wahrnimmt bzw. entdeckt und auch dringend braucht.
Diese Befunde und Entwicklungen in Ost wie in West reflektieren die je spezifische Normalität des gegenseitigen Kennenlern- und Annäherungsprozesses von den sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen und -erwartungen aus.

 

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Zur Autorin: Irena Regener, Dr. phil., Germanistin. Schwerpunkte: Soziolinguistik, Geschichte der sprachwissenschaftlichen Germanistik. Veröffentlichungen u.a.: "Krieg, Nationalismus, Rassismus und die Medien" (gemeinsam mit Wilhelm Kempf, Münster: Lit, 1998); Selbstidentifikation via Varietätengebrauch. Sprachverhalten und Spracheinstellungen in der berliner Sprachgemeinschaft der 90er Jahre. Linguistik online 7, 3/00.

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