conflict & communication online, Vol. 20, No. 2, 2021
www.cco.regener-online.de
ISSN 1618-0747

 

 


Editorial

 

 

 

„Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?“ (Bloch, 1977: 1)
Diese grundlegenden philosophischen Fragen sowie die damit verbundenen Hoffnungen, Unsicherheiten und Ängste, mit denen Ernst Bloch sein Werk „Das Prinzip Hoffnung“ einleitet, sind auch oder gerade 60 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen des mehrteiligen Buches hochaktuell. Wollen wir uns nicht unhinterfragt mit dem Seienden abfinden, kommt es „darauf an, das Hoffen zu lernen“ und „sich ins Werdende tätig hinein[zu] werfen“ (ebd.). Denn, so Bloch in der „Tübinger Einleitung in die Philosophie“: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“ (Bloch, 1968: 11). Daraus folgt die Einsicht: „Nichts ist menschlicher als zu überschreiten, was ist. … Die Welt bleibt in ihrem Insgesamt das selber höchst laborierende Laboratorium possibilis salutis“ (Bloch, 1962: 218f.).
Diese Bewegung weg vom (scheinbar) unbeteiligten Betrachter hin zum beteiligten Akteur [1] verlangt die Reflexion des eigenen Standpunktes sowie die Kritik des Bestehenden. „Widerstand der sozial-humanen Vernunft“ ist nach Bloch „aktiv, ohne Ausrede“ (Bloch, 1967: 11). Doch inwieweit ist dies auf individueller, kollektiver oder institutioneller Ebene möglich? [2] Mit der Mikrophysik des Alltagslebens, der viele Beschreibungen Blochs gelten, korrespondiert die Arbeit an konkreten Utopien. Diese kategorial verfügbar zu machen, bildet eine seiner zentralen reflexiven Anstrengungen. Dabei ist es ihm um eine Vermittlung von Hoffnungsphilosophie mit klassischem Praxisbegriff zu tun: „… es geht um den fragwürdigen Goldgrund des objektiv-real Möglichen und des Neuen, das in diesem Möglichen selbstverständlich latent ist. Es handelt sich um die Kategorie des Noch-Nicht, und zwar in zwei Formen, subjektiv und objektiv: subjektiv als Noch-nicht-Bewußtes und objektiv als Noch-nicht-Gewordenes“ (Bloch, 1978: 341). Demzufolge geht es um die Frage nach der Substanz von Utopie.
Folgende Fragen sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse: Inwieweit kann Widerstand als Utopie im Sinne eines Noch-Nicht-Bewussten bzw. Noch-Nicht-Gewordenen bezeichnet werden, welche Formen gelebten Widerstands existieren und welche Voraussetzungen heutiger Gesellschaften könnten sich günstig/ungünstig auf die Bereitschaft, Widerstand zu leisten, auswirken? Inwiefern können (politische) Musik, Literatur und Kunst bildungsrelevant sein und werden, auf welche Art und Weise können sie zu Widerstand anregen? Welche (weiteren) Aspekte von Blochs Theorien können für eine kritisch-reflexive Bildungsforschung und Bildungspraxis in emanzipatorischer Perspektive fruchtbar gemacht werden?

Das vorliegende Themenheft stellt eine Sammlung von Beiträgen dar, die im Anschluss an den Aufruf, sich im Rahmen des Ersten Ernst Bloch Symposions Salzburg „Utopie und Widerstand. Ideologiekritik – Politische Musik – Bildung“ mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, entstanden sind.

Kunst – Ideologiekritik – Utopie

Ausgehend von der These, dass Musik im pädagogischen Kontext, genauer in Erziehungs-, Lern- und Bildungsprozessen eine wichtige Rolle einnimmt, bezieht sich Reinke Schwinning auf Ernst Blochs Musikphilosophie und damit auf die Frage, worin die besondere Wirkung von Musik auf die Rezipierenden begründet liegt. Die philologisch fundierte Aufbereitung von Blochs Gedankengängen nimmt unter anderem das Vermögen von Bertolt Brechts und Kurt Weills Dreigroschenoper, marxistisch-revolutionäre Ideen zu vermitteln, in den Blick.
Zur Frage von Kunst, Bildung und Politik und den aktualisierbaren Dimensionen von Ernst Blochs Oeuvre unternimmt der Beitrag von Werner Michler eine Lektüre von Blochs wenig beachtetem Text „Die Zauberflöte und Symbole von heute“ (1930). Der Text wird, philologisch abgesichert, im Erstdruck vor dem zeitgeschichtlichen und musiktheoretisch-philosophischen Hintergrund gelesen, im Rahmen der Debattenbeiträge im Anbruch. Rekonstruiert wird dabei die Bloch‘sche Lektüre- und Aktualisierungsform selbst in Auseinandersetzung mit Adorno. Abschließend wird nach den Chancen einer Re-Implementierung Blochs Denkens in zeitgenössischem Diskurs und zeitgenössischer Praxis der Kultur- und Sozialwissenschaften gefragt.
Im Anschluss an den Versuch, Bloch ideologietheoretisch einzuordnen, soll im Beitrag von Manuel Theophil dessen Begriff einer mittelbaren Sachlichkeit zur Auslotung des ideologiekritischen Potentials literarischer Texte genutzt werden. Um derartige Ideologiekritik in ihrer Prozesshaftigkeit beschreiben zu können, wird auf die strukturalistische Theorie einer zweistufigen Semiose zurückgegriffen.
Utopie zeichnet sich bei Bachmann durch ihren Wirklichkeitsbezug, durch ihre Offenheit und Prozessualität aus und nähert sich damit der Bloch‘schen Utopie, dem Traum nach vorn, an. In dem Beitrag von Lina Uzukauskaite wird den ästhetisch-utopischen Bedeutungen des Schönen bei Bachmann und Bloch unter Berücksichtigung von Adornos Ästhetik nachgegangen. Des Weiteren werden kurze implizite Verbindungen zwischen der in diesem Artikel dargelegten Ästhetik der Utopie und der Demokratieforschung, Erkenntnistheorie wie auch Pädagogik hergestellt.
Katrin Ackerl Konstantin gewährt in ihrem BeitragEinblicke in das künstlerische Forschungsprojekt „Mapping the Unseen“, das mittels performativer Interventionen partizipative Strategien zuUnsichtbarem und Unsagbarem erforscht. Eine der Hauptfragen ist: Wie können marginalisierte Themen sichtbar gemacht werden, die im urbanen, öffentlichen Raum nicht sichtbar sind? Der erste Themenbereich, der im Projekt sichtbar gemacht wurde ist LGBTIQ. In diesem Artikel wird die Sichtbarmachung und Umsetzung dieses Themas veranschaulicht und auf theoretische Bezüge eingegangen.

Bildung – Hoffnung – Veränderung

Der Beitrag von Solvejg Jobst diskutiert Potenziale von Blochs Theorie zur praxeologischen Neuformulierung von Bildung. Als Kritik an der neoliberalen Bildungspolitik und in Abgrenzung zur Kapitalisierung von Bildung geht es darum, soziale Praxis – ihre Autonomie und Komplexität anzuerkennen. Anknüpfend an Blochs Hoffnungsphilosophie wird die These vertreten, dass das praxeologische Bildungsverständnis und das Prinzip Hoffnung wechselseitig aufeinander verwiesen sind, wobei das Prinzip Hoffnung, mit seinen Elementen „antizipierendes Bewusstsein“, Noch-Nicht-Seiendes“, Heimat und Entfremdung dabei radikal das gesellschaftsverändernde Potential von Bildung stützt.
Robert Schneider-Reisinger unternimmt mit seinem Beitrag den Versuch, die Tradition materialistischer Erziehungswissenschaft als Artikulation inklusiver Pädagogik fortzuschreiben und zudem Akzente dekolonialer bzw. befreiender Pädagogik aufzunehmen. In Anknüpfung an Ernst Blochs marxistische Philosophie wird das Ziel anvisiert, die herrschende Inklusive (Schul-)Pädagogik kritisch weiterzuentwickeln. Drei Aspekte stehen dabei im Fokus: der Konnex von Theorie und Praxis bzw. die Akzentuierung inklusiver Pädagogik als Veränderungswissenschaft, die Herausarbeitung ihrer Prozessmaterie, sowie die Irritation der üblichen Prozess-Vorstellung erfolgreicher bzw. gelungener Inklusion anhand der Erarbeitung einer unorthodoxen Auffassung von Teleologie und deren Realisierung.
Das Ziel der internationalen Studie "Futures Literacy - Children's Crisis Narrations as Spaces of Utopias of Solidarity", liegt darin, anhand von Krisenerzählungen von Schulkindern in verschiedenen europäischen Ländern Einblicke in ihre (Lebens-)Welt und Perspektiven auf die Heimerziehung in Zeiten der Corona-Krise zu gewinnen. Die Methode des Youth Writing ermöglicht es, die Perspektiven der Jugendlichen in den Mittelpunkt unserer Analysen zu stellen. Theoretisch knüpft die Studie an das Konzept der Futures Literacy (Miller, 2007) an. Das vorliegende Datenmaterial wurde in zwei Phasen ausgewertet. Der Beitrag von Wassilios Baros, Ulrike Greiner, Aida Delic & Mishela Ivanova stellt die Ergebnisse der quantitativ-qualitativen Inhaltsanalyse mittels Latenter Klassenanalyse (LCA) vor. Ulrike Greiner, Wassilios Baros, Herlinde Aichner & Paraskevi Fanarioti gewähren im Anschluss daran einen Einblick in die Analyse von einzelnen Schüler*innentexten auf Basis der Objektiven Hermeneutik.

Essays

Zum Abschluss geht Volker Schneider in seinem Essay davon aus, dass unser ‚Stoffwechsel‘ mit der Natur auf diesem Planeten und unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen eklatante Mängel haben, die ein dringendes Bedürfnis nach Veränderung und Widerstand hervorrufen. Blochs „Neue Mathesis“ liefert die Grundlage für das erforderliche, fundamental neue Denken, das es ermöglicht, die bestehende Destruktion zu stoppen und widerständische Aktivitäten eines Individuums dauerhaft anzuleiten. Es begleitet die Selbstermächtigung und bindet Theorie untrennbar an Praxis als dialektischen Partner für widerständische Aktivität.

Salzburg, im Oktober 2021

Ricarda Gugg, Wassilios Baros, Heinz Sünker & Sabine Coelsch-Foisner

Die Gastherausgeber:innen: Ricarda Gugg, MA, ist Universitätsassistentin und Dissertantin an der Paris Lodron Universität Salzburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft. Forschungsinteressen: Erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung, (Politische) Bildungsforschung, Wertediskurse in der Migrationsgesellschaft, Bildungstheorie und -philosophie.
eMail: ricarda.gugg@plus.ac.at

Wassilios Baros ist Professor für Bildungsforschung an der Paris-Lodron Universität Salzburg und leitet die Projektgruppe Empirische Migrationsforschung (PREMISA). Seine Forschungsinteressen umfassen migrationspolitische Bildungsforschung, Latente Stilanalysen von Kommunikationskulturen und Rezipientenforschung.
eMail: wassilios.baros@plus.ac.at

Heinz Sünker ist Rudolf-Carnap-Senior-Professor der Bergischen Universität Wuppertal, war dort zuvor Prof. für Sozialpädagogik/Sozialpolitik. Er studierte Germanistik, ev. Theologie, Philosophie, Erziehungswissenschaft an den Universitäten Münster & Heidelberg; Stipendiat des Ev. Studienwerkes Villigst. Promotion und Habilitation (mit einer Arbeit zum Westlichen Marxismus) hat er an der Universität Bielefeld abgelegt. Seine Arbeitsgebiete sind unter anderem: Kritische Theorie, Bildungstheorie und Bildungsforschung, Theorie und Geschichte Sozialer Arbeit, Kindheitsforschung, Nationalsozialismus und Widerstand.
eMail: suenker@uni-wuppertal.de

Sabine Coelsch-Foisner ist Professorin für englische Literaturwissenschaft und Kulturtheorie an der Universität Salzburg, wo sie den Fachbereich Anglistik & Amerikanistik, das Interdisziplinäre Forschungszentrum Metamorphischer Wandel in den Künsten und den Programmbereich Arts & Aesthetics geleitet hat. Derzeit leitet sie das Doktoratskolleg Cultural Production Dynamics und die ARGE Kulturelle Dynamiken an der ÖFG sowie die 2010 von ihr gegründeten Atelier Gespräche in Kooperation mit Kultureinrichtungen. Forschungsgebiete sind englische Literatur, kulturelle Produktionen, Theater, Lyrik, Fantastik, Kulturtheorie, Ästhetik und Ideengeschichte.
eMail: sabine.coelsch-foisner@plus.ac.at

Literatur

Bloch, E. (1962). Verfremdungen I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bloch, E. (1967). Widerstand und Friede. Dankesrede für den Friedenspreis des dt. Buchhandels. Frankfurt a. M.: Börsenverein des dt. Buchhandels.
Bloch, E. (1968). Tübinger Einleitung in die Philosophie. 1. (6. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bloch, E. (1977). Das Prinzip Hoffnung, Teil 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bloch, E. (1978). Tendenz – Latenz – Utopie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Delanty, G. (2021). Critical Theory and Social Transformation. Crises of the Present and Future Possibilities. London/New York: Routledge.
Gekle, H. (2019). Der Fall des Philosophen. Eine Archäologie des Denkens am Beispiel Ernst Blochs. Frankfurt a. M.: V. Klostermann.
Wright, E. O. (2017). Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus. Mit einem Nachwort von Michael Brie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Anmerkungen

[1] Was im Falle Blochs durchaus – und darauf ist deutlich hinzuweisen – zu katastrophalen politischen Fehleinschätzungen Stalins und seines mörderischen Systems führen konnte, siehe dazu neuerdings noch einmal deutlich die Biographie von Gekle (2019).
[2] Siehe dazu als wesentlichen Beitrag zu der neuesten Debatte Delanty (2021). Vgl. weiter zur Einordung des Utopie-Ansatzes auch Wright (2017).


zurück zum Inhaltsverzeichnis