conflict & communication online, Vol. 17, No. 2, 2018
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ISSN 1618-0747

 

 

 

Herfried Münkler & Marina Münkler (2017). Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag.
ISBN 978-3-499-63207-5 .

Abweichend davon, wie ich Buchbesprechungen sonst zu konzipieren pflege, möchte ich mit einer Anekdote beginnen, die in meinem russischsprachigen Bekanntenkreis auf Whatsapp kursierte, als ich gerade dabei war, das Buch von Herfried und Marina Münkler zu lesen.
In meiner freien Übersetzung liest sich die Anektote wie folgt:

Ein Flüchtling kommt nach Nürnberg und trifft dort eine Fee. Die Fee verspricht, ihm drei Wünsche zu erfüllen. Erstens wünscht er sich, ein deutsches Haus und ein deutsches Auto wie halt bei den Deutschen und zudem auch viel Geld wie halt bei den Deutschen. Der Wunsch geht sofort in Erfüllung. Der Mann ist sehr glücklich. Als Zweites wünscht er sich, dass alle seine Verwandten und die Verwandten von den Verwandten nach Deutschland kommen und all das bekommen, was er als erster Wunsch bekommen hat. Auch dieser Wunsch geht sofort in Erfüllung. Der Flüchtling kann es kaum glauben und ist außer sich vor Freude. „Wenn dies so gut vonstattengeht, dann wünsche ich mir – sagt der Flüchtling – ein wahrer Deutsche zu werden.“ Plötzlich verschwindet alles; es gibt keine Verwandtschaft, kein Haus, kein Auto mehr. Der Flüchtling kann es kaum glauben. Erstaunt schaut er die Fee an und fragt, was los ist. Die Fee antwortet, „Jetzt bist du ein Deutscher. Du musst jetzt alles erst selbst erwirtschaften.“

Kennzeichnend für Anekdoten als kurze Erzählungen mit humorvollem Hintergrund ist, dass sie auf einer beachtenswerten oder bezeichnenden Begebenheit aus dem Leben basieren, wesentliche Merkmale exemplarisch zur Schau stellen und ein pointiertes Ende beinhalteen (1). Freilich sind Anekdoten aber auch dafür bekannt, die Klischees jener Zeit und jener Gesellschaft zu bedienen, in der sie entstehen. Oft beinhalten sie keine systematischen Zusammenhänge und sind Transporteure von Ressentiments, Stereotypen und Vorurteilen. Eine treffende Erklärung der eingangs erzählten Anekdote lässt sich im Buch von Herfried und Marina Münkler finden. Diese möchte ich als Einstieg in die Buchbesprechung zitieren. Die Autoren schreiben:

„Es gibt in Deutschland ein Ressentiment gegen Flüchtlinge, das mit dem Anschwellen der Flüchtlingsströme um sich gegriffen hat – über die kleinbürgerlichen Kreise hinaus, in denen solche Ressentiments seit jeher beheimatet sind. Dieses Ressentiment hat einen harten Kern, und der besteht in der Vorstellung, mit der Versorgung von ‚Wirtschaftsflüchtlingen‘ werde der unmittelbare Zusammenhang von Arbeit und Ertrag aufgebrochen und es komme zur Privilegierung einer bestimmten Gruppe von Menschen, die nicht arbeiten und doch essen.“ (S. 114)

Wird die o. g. Anekdote in einzelne Sequenzen zerlegt und deren semantischer Gehalt analysiert, so ergeben sich einerseits Fragestellungen, die öffentliche Diskurse seit Herbst 2015 dominieren und die deutsche Gesellschaft vor zahlreiche Herausforderungen stellen. Konkret handelt es sich um den Umgang der deutschen Regierung mit der Situation, als Ströme von Menschen Zuflucht und Schutz in Europa suchten und die deutsche Grenze ab September 2015 in unkontrollierter Zahl überquerten, sowie um die Gestaltung der Flüchtlingspolitik, die das etablierte politische System zunächst ins Schwanken gebracht hat und spätestens nach der Bundestagswahl im September 2017 von einer politischen Krise in die nächste jagt. Andererseits handelt es sich um Fragestellungen, die bereits seit Jahrzehnten auf der gesamtgesellschaftlichen Agenda Deutschlands stehen, in der breiten Öffentlichkeit immer wieder emotional diskutiert werden und dennoch (zumindest gefühlt) immer noch ungelöst bleiben. Es geht um die Suche nach nationaler Identität und noch konkreter um die Frage, was es bedeutet, „Deutsch“ zu sein? Mit der Betitelung ihres Buchs Die neuen Deutschen nehmen sich Herfried und Marina Münkler einer schwierigen Aufgabe an und versuchen, die Flüchtlingskrise von 2015 in einen historischen Kontext zu stellen, die integrationspolitischen Anforderungen an den deutschen Staat, das Verwaltungssystem und die Zivilgesellschaft zu formulieren und schließlich das Konzept „Deutsche zu sein“ mit ganz konkreten Inhalten zu füllen.
Wer ist denn mit der Gruppe der „neuen Deutschen“ gemeint? Und, wenn es eine Gruppe von „neuen Deutschen“ gibt, dann sollte es auch eine Gruppe von „alten Deutschen“ geben, oder? Die Abgrenzung zwischen den beiden imaginären Gruppen definieren die Autoren ganz bewusst zu Beginn des Buchs. Die „neuen Deutschen“ sind nicht die Neuankömmlinge, sondern jene Gruppe der Alteingesessenen (unabhängig davon, ob mit oder ohne sogenannten Migrationshintergrund), die Deutschland als ein weltoffener Ort verstehen (S. 13). Die „alten Deutschen“ hängen dagegen noch an der Vorstellung, dass Deutschsein über „die ethnische Geschlossenheit des Volks“ definiert wird und haben Schwierigkeiten damit, dass Deutschland u. a. aufgrund seines demographischen Schrumpfens „dauerhaft auf Zuwanderung angewiesen ist“ (S. 13). Die Kluft zwischen den beiden Gruppen, die sich insbesondere anhand der Wahlergebnisse beobachten lässt, wird von den Autoren zunächst als eine Gegebenheit konstatiert und bis zur letzten Seite des Buchs mit bildhaften Darlegungen und Beispielen aus unterschiedlichen Disziplinen (Geschichte, Soziologie, Philosophie, Literatur, etc.) systematisch analysiert.
So widmen die Autoren das erste Kapitel des Buchs der Frage „Grenzen, Ströme, Kreisläufe – wie ordnet sich eine Gesellschaft?“ und leisten einen aufklärenden Beitrag zum Verständnis davon, wie Migrationsbewegungen entstehen und welche Faktoren – z.B. Boden, Kapital und Arbeit (S. 31) – verschiedene Migrationsdynamiken beeinflussen. Bemerkenswert dabei ist, wie die Autoren verschiedene Positionen, Ansichten und Argumente von sowohl rechtspopulistischen als auch von radikal liberalen Protagonisten rekonstruieren und argumentativ widerlegen. So entsteht auf den ersten Blick zwar der Eindruck, dass Leserinnen und Leser jeglicher politischer Gesinnung in diesem Kapitel passende Argumente finden, um die die eigene Position zu bestätigen und/oder die Position des politischen Gegners zu entkräften. Im Ergebnis jedoch wird der Blick der Leserinnen und Leser auf unterschiedliche Positionen erweitert, um letztendlich die je eigene Position zu hinterfragen.
Das zweite Kapitel widmen die Autoren verschiedenen Themen hinsichtlich der rechtlichen Selbstbindung eines modernen Wohlfahrtsstaats, der Gestaltung einer offenen Gesellschaft sowie dem Umgang mit Migranten im europäischen Raum. Dabei vertreten die Autoren die These, dass „offene Gesellschaft und staatliches Kontrollregime nicht zwangsläufig Antipoden sind, sondern sich komplementär zueinander verhalten können“ (S. 85). So wird z. B. mithilfe historischer Beispiele aufgezeigt, warum sich das deutsche Sozialsystem vor dem Hintergrund einer unkontrollierten Migration, die im Rahmen eines Einwanderungsgesetzes geregelt werden könnte/sollte, auf Dauer als kontraproduktiv erwiesen hat und dass „der Anteil der illegal im Land befindlichen potenziellen Arbeitskräfte“ anwächst (S. 93). Mit der Situation, dass „es etwa eine halbe Million abgelehnte, aber geduldete Asylbewerber“ (S. 97) gibt, verschärft sich die Problematik weiterhin und stellt das deutsche Sozialsystem aber auch den Rechtsstaat auf den Prüfstand. An dieser Stelle diskutieren die Autoren mögliche Wege aus dieser Situation und zeigen transparent auf, mit welchen Herausforderungen sie einhergehen und mit welchen Anstrengungen sie beschritten werden können.
Im dritten Kapitel werden Migrantenströme und Flüchtlingswellen mit Blick auf alte Werte, neue Normen und viele Erwartungen analysiert. Zudem werden nicht nur die Fluchtursachen und die Organisation der Flucht durch Schlepper, Schleuser und Menschenschmuggler als Gegebenheiten, sondern auch die Bedeutung der Metaphoriken des Fluiden (mit Blick auf die Flüchtlinge als Menschenströme) und des Gastes (im Blick auf die Flüchtlinge als Neuankömmlinge) diskutiert. Das Ziel dabei ist, die aktuellen Fluchtbewegungen in einen größeren historischen Migrationskontext zu stellen und die Flüchtlingspolitik nicht nur als Konsequenz eines politischen (Nicht-)Handels, als eine politisch-strategische und eine logistisch-organisatorisch zu bewältigende Aufgabe, sondern auch als humanitäre Verpflichtung zu gestalten. So sind die Autoren der Auffassung, dass die Staaten der Europäischen Union (EU) eine erhöhte Verpflichtung haben, den (zumindest) syrischen Flüchtlingen humanitär zu helfen, weil die Syrienfrage lange nicht auf der politischen Agenda der EU stand und die Flüchtlingskrise u. a. durch die Politik des Verzichts auf eine Intervention entstanden ist (S. 172).
Im vierten Kapitel legen die Autoren den Fokus auf die Herausforderungen in Deutschland und Europa und eine Kluft, die sich in der deutschen Gesellschaft seit Beginn der massenhaften Zuwanderung von Flüchtlingen aufgetan hat. Während die Spaltung der deutschen Gesellschaft „keineswegs so klar und eindeutig“ ist (S. 192), sind die Autoren der Auffassung, dass die politische Spaltung in Deutschland einen regionalen Charakter hat. So lassen sich die überwiegend in den neuen Bundesländern zu verzeichnenden Protestbewegungen und Angriffe auf Flüchtlings- und Asylbewerberunterkünfte zum Teil durch die DDR-Geschichte erklären. „Die DDR war das deutscheste Deutschland, das es jemals gegeben hat“ (S. 193). Die fehlende Erfahrung mit Fremden auf einer Seite und „massive Degradierungserfahrungen“ im Zuge der Wiedervereinigung auf der anderen Seite haben dazu geführt, dass auch Menschen ohne kriminelle Vorgeschichte sich berufen gefühlt haben, das eigene Land mittels Brandstiftung vor Überfremdung zu bewahren. Daraus hat sich ein „vigilantistischer Terror“ entwickelt, der den Fremden demonstrativ zeigte, dass sie in Deutschland nicht willkommen seien (S. 194). Als die Bilder der brennenden Unterkünfte um die Welt gingen, wurden in Deutschland Menschen mobilisiert, um diesen Terror entschieden entgegen zu treten und mit Bildern einer Willkommenskultur zu überschreiben. Als nicht intendierte Wirkung dieser Demonstrationen von Willkommenskultur, wurden Massen von Menschen aus dem Westbalkan und der Maghrebregion in Bewegung versetzt, „die sich zeitweilig in den Strom der Bürgerkriegsflüchtlinge gemischt haben“, um als Arbeitsmigranten und/oder in die deutschen Sozialsysteme zu emigrieren (S. 221). Die Formel der Bundeskanzlerin „Wir schaffen das!“ verwandelte sich allmählich von einem „aufmunternden Zuruf, dass das Land diese Herausforderung bestehen werde, in eine politische Zumutung.“ (S. 224) Nun sind die Menschen da. Sie sind von ihrer Herkunft heterogen; ihre rechtlichen Lagen werden in verschiedenen Abstufungen definiert; die Zahl der sich in Deutschland illegal befindenden Menschen ist nicht bekannt; manche würden in Deutschland nicht bleiben wollen, manch andere auch nicht bleiben dürfen. Die Geschichte lehrt, dass die Neuankömmlinge, die bleiben wollen und bleiben werden, in die deutsche Gesellschaft möglichst schnell integriert werden sollen. Nur wie kann dieses anspruchsvolle Integrationsprojekt gelingen?
Das fünfte und abschließende Kapitel nennen Herfried und Marina Münkler etwas ambitioniert „Aus Fremden ‚Deutsche‘ machen“. Was zeichnet eine erfolgversprechende Integrationspolitik aus? Welche Rolle kommt auf die Aufnahmegesellschaft bei einer langfristig angelegten Integrationspolitik zu? Welche Haupthindernisse ergeben sich auf dem Weg zur Integration muslimischer Neuankömmlinge in die deutsche Gesellschaft? Parallelgesellschaften: Durchgangsschleusen der Integration oder Räume dauerhafter Trennung? Inwiefern hilf ein europäisch vergleichender Blick auf die Integrationsmaßnahmen, Erfolge und Misserfolge in Frankreich, Schweden und Holland? Was ist der grundlegende Unterschied zwischen einer ethnischen Definition nationaler Zugehörigkeit und einer Vorstellung nationaler Identität? Herfried und Marina Münkler gehen offensiv diesen Fragen nach und lassen sie nicht im leeren Raum stehen. Sie definieren und begründen elf Imperative einer vorausschauenden Integrationspolitik und legen die Chancen und Risiken der Integration der Neuankömmlinge offen. Sie schlussfolgern, dass die deutsche Integrationspolitik im europäischen Vergleich bisher gute Ergebnisse erzielt hat. Durch „eine normativ angereicherte Identitätszuschreibung“, die fünf Anforderungen enthält, definieren sie ganz genau, was „Deutsch werden/sein“ bedeuten kann und plädieren für eine hinreichende Modernisierung der Vorstellung nationaler Identität, die offener und flexibler sein sollte, „um den Herausforderungen unserer Gegenwart und Zukunft zu begegnen“ (S. 287-290).

Zusammenfassend ist das Buch von Herfried und Marina Münkler bestens geeignet, den Blick auf die Ursachen, den Umgang mit und die möglichen Konsequenzen der „Flüchtlingskrise“ von 2015 entscheidend zu erweitern und das aktuelle Integrationsprojekt der deutschen Gesellschaft in all seinen Facetten mit reellen Chancen und Risiken tiefergehend zu verstehen. Nach dem Lesen dieses Buchs erscheinen Anekdoten wie die oben erzählte in einem ganz anderen Licht; sie sind überhaupt nicht witzig.

(1) Vgl. https://wortwuchs.net/anekdote/

Irina Volf

 

     
 

Über die Autorin: Irina Volf erwarb den Titel eines Dr. rer. soc. in Psychologie an der Universität Konstanz (Deutschland). Zurzeit arbeitet sie als Bereichsleiterin der Themenbereiche „Armut“ und „Migration“ am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main
eMail: wolf.irina@gmail.com

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