conflict & communication online, Vol. 14, No. 1, 2015
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ISSN 1618-0747

 

 


Editorial

 

 

 

Im Mai 2014 verbreitete Daniel Bar-Tal, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Tel Aviv, einen offenen Brief, den wir in der vorliegenden Ausgabe von conflict & communication online dokumentieren. In diesem Brief formuliert Bar-Tal, der als einer der weltweit führenden Vertreter der Politischen Psychologie gilt, einen dringenden Appell zur Beendigung der israelischen Occupartheid-Politik, die nicht nur den Palästinensern ein fortwährendes Unrecht antut, sondern auch Israel von innen heraus zu zerstören droht.
Seither ist alles noch schlimmer gekommen: Eine Zweistaaten-Lösung für Israel/Palästina kann nur dann Frieden bringen, wenn ein Friedensvertrag, der das Existenzrecht beider Staaten garantiert, auch von der Hamas mitgetragen wird. Die Aussöhnung zwischen Hamas und PLO und die Einsetzung einer Einheitsregierung in den Palästinensergebieten im Frühsommer 2014 hätte von Netanjahu als Chance verstanden werden können, sich diesem Ziel anzunähern. Stattdessen reagierte er darauf mit dem Abbruch der Friedensverhandlungen.
Die Entführung und Ermordung dreier Talmud-Schüler durch Mitglieder der Hamas, der bestialische Racheakt, bei dem ein palästinensischer Jugendlicher bei lebendigem Leib verbrannt wurde, der Gaza-Krieg, dem 2200 Palästinenser (meist Zivilisten) und 70 Israelis zum Opfer fielen, eine Welle von spontanen und improvisierten Attentaten in Jerusalem im Herbst 1914 waren die Stationen des erneuten Gewaltausbruchs, aus dem der israelische Schriftsteller Yali Sobol die Lehre zieht, dass Terror nicht mit militärische Mitteln eliminiert werden kann: „Die beste Art, diese Bedrohung aus dem Weg zu räumen, wäre eine politische Übereinkunft, die hüben und drüben den Hass bändigt – ein historischer Kompromiss, der die Motivation für solche Akte beseitigt oder wenigstens reduziert. Unglücklicherweise macht es den Anschein, dass derzeit viele Israeli – auch ein Grossteil der politischen Elite – diese Sichtweise im besten Fall für naiv, im schlimmeren für verräterisch halten“ (zit. n. Neue Züricher Zeitung vom 1.12.2014).
Auch in der Schweiz, in Deutschland und im übrigen Europa werden Stimmen, die einen Wandel der israelischen Politik einfordern, nur allzu schnell des Antisemitismus bezichtigt. Ein Vorwurf, den man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte, zumal es tatsächlich nicht wenige Antisemiten gibt, deren (scheinbare) Parteinahme für die Palästinenser ihnen letztlich nur als Mittel dient, „das wahre Gesicht der Juden“ zu entlarven. Für einen Generalverdacht gegen Israelkritik gibt es jedoch keinen Grund: Die überwiegende Mehrheit derer, die der israelischen Politik kritisch gegenüberstehen, tut dies, weil sie für die Menschenrechte eintritt, sich gegen Antisemitismus und Islamophobie gleichermaßen wendet und nicht nur das Unrecht verurteilt, das den Palästinensern angetan wird, sondern jegliche Art von Gewalt – seien es israelische Militäraktionen oder palästinensische Terroranschläge – ablehnt.
„Wenn es überhaupt noch eine Sache gibt, in der sich Israeli und Palästinenser dieser Tage einig sind, dann diese: Es wird noch schlimmer werden“ schreibt Sobol (ebd.), und das Übergreifen des israelisch-palästinensischen Konfliktes auf Europa scheint ihm Recht zu geben. Die Anschläge auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris im Januar sowie auf ein Kulturzentrum und eine Synagoge in Kopenhagen im Februar 2015 lassen befürchten, dass der Konflikt nicht nur auf Europa übergreift, sondern eine neue Dimension gewinnt und eine zunehmende Anzahl von Palästinensern so radikalen und von Judenhass besessenen Kräften in die Arme treibt, dass die Hamas im Vergleich dazu als geradezu gemäßigt erscheint. Wenn Netanjahu sein Wahlversprechen erfüllt, dass es unter ihm keine Einigung mit den Palästinensern geben wird, verpasst er vielleicht die letzte Chance auf eine politische Lösung des Konfliktes.

Berlin, im April 2015

Wilhelm Kempf


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