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Gert Sommer &
Albert Fuchs (eds), 2004. Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und
Friedenspsychologie. Stuttgart: Beltz-PVU.
Die Notwendigkeit
von interdisziplinären Perspektiven in der Friedensforschung wird
immer wieder betont, etwa bei der Bestandsaufnahme bundesdeutscher Friedens-
und Konfliktforschung im Rahmen einer Konferenz in Augsburg 2002: Die
"neue Weltordnung' und die Vielfalt und Diversität von
Konflikten erfordert eine Friedens- und Konfliktforschung, die ebenso
vielfältig ist" (Schultze et al 2004, S. 15). In der Dokumentation
"Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme."
(Eckern et al 2004), die aus dieser Konferenz hervorging, werden psychologische
Perspektiven im Vergleich zu anderen Disziplinen nur sehr knapp aufgenommen
und stehen unter dem Titel "psychologisch-pädagogische Konfliktforschung".
Die Bandbreite psychologischer Konflikt- und Friedensforschung wird unterschätzt,
wenn in oben genannter Dokumentation angemerkt wird, dass sich Psychologie
und andere Sozialwissenschaften vor allem auf Konflikte innerhalb einer
Gesellschaft, insbesondere Deutschland bezögen.
Mit dem vorliegenden Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie machen
die Herausgeber Sommer und Fuchs, langjährig diesem Forschungsbereich
verpflichtet, die thematische Bandbreite psychologischer Beiträge
zur Friedens- und Konfliktforschung aus dem deutschsprachigen Raum und
z.T. darüber hinaus, nun zugänglich. Das Handbuch füllt
eine Lücke in der Friedens- und Konfliktforschung und bildet gleichzeitig
einen Meilenstein in der Etablierung von Friedenspsychologie als Forschungs-
und möglicherweise auch Praxisgebiet. Es richtet sich an Friedens-
und Konfliktforscher/innen der verschiedenen Disziplinen, an Psycholog/innen,
Studierende und andere Interessierte, die sich einen Überblick über
den spezifisch psychologischen Beitrag zum Fachgebiet verschaffen wollen.
An den Berufsfeldern Friedensarbeit oder Friedensforschung Interessierte
lernen mögliche Tätigkeitsbereiche bzw. aktuelle Forschungsperspektiven
und -lücken kennen. Friedenspädagog/innen finden neue Aspekte
zur Fundierung ihrer Arbeit.
Das Handbuch ist übersichtlich in die drei Abschnitte "Grundlagen",
"Kriegskultur" und "Frieden gestalten" gegliedert,
denen insgesamt knapp 50 Artikel von 40 Autoren und leider nur 9 Autorinnen
zugeordnet sind. Für eine angenehme Lesbarkeit sorgen farblich abgesetzte
Definitionen und Beispiele, den Literaturangaben vorangestellte Literaturempfehlungen,
viele Querverbindungen zwischen den Artikeln sowie die weitgehende Vermeidung
inhaltlicher Dopplungen.
Der ausführliche Grundlagenteil beginnt mit einer allgemeinen Bestimmung
des inhaltlichen und methodologischen Rahmens der hier vertretenen Konflikt-
und Friedenspsychologie. Im Spannungsfeld zwischen Anforderungen und Wissenschaftsverständnis
einer traditionellen Psychologie auf der einen Seite und emanzipatorischen
und normativen Ansprüchen, die sich aus dem Gegenstand ableiten lassen,
auf der anderen, suchen die Herausgeber eine Verankerung in der Disziplin
Psychologie im engeren Sinne und bemühen sich gleichzeitig, einen
weiten methodologischen und inhaltlichen Rahmen zu öffnen. Wer anfangs
eine stärkere Bezugnahme zu kritischen und emanzipatorischen Wissenschaftstraditionen
vermisst, wird sie in späteren Kapiteln finden, wo sie von einigen
Autor/innen, jeweils unterschiedlich, aufgegriffen werden.
Der Grundlagenteil bietet Beiträge zu Geschichte, Forschungsparadigmen
und Aufgabenbereichen von Friedens- und Konfliktpsychologie sowie zu grundlegenden
Begriffen wie "politischer Gewalt", "Menschenrechten und
Friedensethik". Ausführlich werden für die Konfliktforschung
relevante Ergebnisse sozialpsychologischer Grundlagenforschung vorgestellt,
deren Übertragung auf politische Ereignisse wie etwa den 11. September
2001 ohne interdisziplinäre Einbettung etwas sperrig bleibt. In den
folgenden Beiträgen geht es um "politische Sozialisation"
sowie um "Gerechtigkeit". Gerechtigkeit könne Handlungsmotiv
für Solidarität und Verzicht sein, andererseits zur Zuspitzung
von Konflikten führen. Ergebnisse und Modelle der Konfliktforschung,
die sich u.a. auf internationale und andere Makrokonflikte beziehen, schließen
den Grundlagenteil ab.
Der kürzeste Teil 2 "Kriegskultur" befasst sich einführend
mit der militärischen Neuorientierung seit Ende des kalten Krieges.
Ergebnisse der bundesdeutschen Meinungsforschung zu Bundeswehr und Sicherheitspolitik
beziehen sich u.a. auf die politische Orientierung von Bundeswehrsoldaten.
Schade ist, dass das Meinungsbild in Ostdeutschland als Abweichung gegenüber
dem westdeutschen Meinungsbild diskutiert wird, wodurch das Westdeutsche
als anzustrebende Norm missverstanden werden kann. Eine einführende
"Psychologie des Rechtsextremismus" bietet überraschende
Erkenntnisse über männliche rechtsextreme Täter. Auf neuere
politische Entwicklungen, z.B. die Einbindung von Subkulturen durch halborganisierte
Strukturen wie Kameradschaften, wird nicht eingegangen. Weitere Beiträge
befassen sich mit "Macht", insbesondere Machtmotivation sowie
mit "militaristischen und pazifistischen Einstellungen". Die
fruchtbare Vielfalt verschiedener erkenntnistheoretischer Herangehensweisen
wird deutlich bei den zwei aufeinanderfolgenden Kapiteln: "Feindbilder"
werden essentialistisch anmutend als "stark negativ verzerrte Wahrnehmungen"
gefasst, eine Betrachtung, die die Konzeption einer Bedrohung durch reale
Feinde ("realistische negative Bilder") ermöglicht. "Propaganda",
das Thema des darauffolgenden Kapitels, wird dagegen konstruktivistisch
konzipiert.
Zwei Beiträge befassen sich mit der Nutzung von psychologischem Wissen
für militärische Zwecke. "Psychologische Kriegführung"
ziele auf die Destabilisierung und Isolation des Gegners und die Mobilisiung
der eigenen Truppen und Bevölkerung mit allen zur Verfügung
stehenden Mitteln, von offener oder subversiver Propaganda bis zu gezielten
Anschlägen. Die "militärische Sozialisation" von jungen
Schulabgängern zu Soldaten beinhalte aufwändige Strategien,
z.B. Phasen krisenhafter Verunsicherung und das Anbieten einfacher Orientierungen
als Alternativen. Die Teilung in eine militärische, interne und eine
zivile, externe Moral führe zur Frage, ob die Rolle des Militärischen
in Industriegesellschaften einen Bruch zu den Grundwerten oder die Verkörperung
verdeckter Leitwerte darstelle.
Mit psychischen Auswirkungen von Krieg befassen sich die Kapitel "Sozialisation
im Krieg" und "Extremtraumatisierung". Forschungsergebnisse,
die einen Zusammenhang zwischen so genannter hoher kultureller, bzw. zivilisatorischer
Entwicklung und Kriegsanfälligkeit nachweisen, bilden den Abschluss.
Der dritte Teil des Handbuchs "Frieden gestalten" beginnt mit
Analysen zu zivilgesellschaftlichem, friedenspolitischem Engagement, gewaltfreiem
Widerstand und der Wirksamkeit gewaltfreier Kampagnen. In den folgenden
Kapiteln geht es um Handlungsmöglichkeiten weiterer gesellschaftlicher
Akteure, z.B. um Kriterien, Entstehungsbedingungen und Rezeptionschancen
eines "Friedensjournalismus", um politische Instrumente des
Vertrauensaufbaus bei internationalen Spannungen sowie um Verhandlungsführung.
Bekannte und weniger bekannte Methoden der Konfliktbearbeitung sind Thema
der folgenden Kapitel. Neben der - bei zwischenstaatlichen Konflikten
nur eingeschränkt erfolgreichen - Mediation wird der sehr interessante
Ansatz der "interaktiven Konfliktlösung" vorgestellt. Er
ist speziell für Bürgerkriege, d.h. für "tief verwurzelte
soziale Konflikte" (Azar, 1990) zwischen Identitätsgruppen,
konzipiert und bindet informelle, aber einflussreiche Vertreter/innen
der Konfliktparteien unter Beratung von Dritten in einen längerfristigen
Dialogprozess ein. Eine gut strukturierte Einführung in den Begriffsdschungel
ziviler Intervention und einen Überblick über erste Evaluationsstudien
gibt das folgende Kapitel. Erfolgsbedingungen für zivile Intervention
ähnelten denen für militärische Intervention, was die häufig
behauptete Überlegenheit militärischer Friedensmissionen in
Frage stelle.
Die Bewältigung des durch Kriege entstandenen menschlichen Leids
ist Thema der nächsten Kapitel. Zur Versöhnung seien integrierte
Konzepte des materiellen und psychosozialen Wiederaufbaus notwendig, die
gemeindebezogen, kulturell verankert Selbsthilfe fördern, wobei Traumaarbeit
zusammen mit Angeboten zur gewaltfreien Konfliktbewältigung umgesetzt
werden sollte.
Die Themen Prävention und Friedenspädagogik werden mit Perspektiven
auf "moralische Kompetenz", "Konfliktfähigkeit und
Zivilcourage", den "Umgang mit interethnischen Konflikten in
Bildungsinstitutionen" und "interkulturelles Lernen" bearbeitet.
Eine interessante Betrachtung von Bildungsprogrammen zur Konflikttransformation
in Krisengebieten bringt Spannungsfelder, in denen sich diese Bildungsprogramme
bewegen, prägnant auf den Punkt.
Das Handbuch führt mit seinem sehr ausführlichen Grundlagenteil
und den differenzierten, vielfältigen anwendungsbezogenen Beiträgen
zu Kriegskultur und Friedensgestaltung eindrucksvoll vor Augen, dass Psychologie
einen wichtigen Beitrag zur Friedens- und Konfliktforschung leistet. Friedens-
und Konfliktpsychologie befasst sich sowohl mit individuellen Prozessen,
wie Einstellungen, als auch mit Gruppenprozessen, etwa Entscheidungsfindung
politischer Eliten, als auch mit komplexen gesellschaftlichen Prozessen,
beispielsweise Versöhnung. Friedens- und Konfliktpsychologie hat
einen Beitrag zu leisten zur Entwicklung von Demokratie, z.B. zur Förderung
von Konfliktfähigkeit, politischem Engagement und moralischer Kompetenz.
Dabei stellt der Forschungsbereich theoretische Grundlagen, etwa zur militärischen
Sozialisation, und konkrete Methoden bereit, wie die einer deeskalationsorientierten
Berichterstattung.
Die Texte nehmen Bezug auf aktuelle und historische politische Kontexte.
Besonders die im Anwendungsteil vorgestellten Methoden werden anhand zahlreicher
interessanter Praxisbeispiele überzeugend unterlegt. Bedauerlich
ist, dass Ergebnisse der psychologischen Geschlechterforschung nur sehr
vereinzelt Eingang fanden, sowohl in Bezug auf Konstruktionen von Männlichkeit
und Weiblichkeit, gerade hinsichtlich des Militärischen, als auch
in Bezug auf weibliche und männliche Opfer- und Tätererfahrungen.
Leider sind auch psychoanalytische Ansätze der Friedensforschung
nicht enthalten.
Das in seinen theoretischen und anwendungsbezogenen Ansätzen fundierte
Handbuch ist ein wichtiger Beitrag zur Friedens- und Konfliktforschung.
Die hier dargestellten psychologischen Perspektiven sind eine Aufforderung
an andere Disziplinen zur gemeinsamen, interdisziplinären Theoriebildung.
Das Handbuch ist ein Meilenstein zur Etablierung von Konflikt- und Friedenspsychologie
und eine Bereicherung für die Disziplin Psychologie.
Literatur
Azar, E., 1990. The management of protracted social conflict. Hampshire:
Dartmouth Publishing.
Schultze, R., T. Zinterer, 2004. Einleitung. In: U. Eckern et al (Hrsg.):
Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme.
VS: Wiesbaden, 11-19.
Miriam
Schroer
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